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Beide wollen in den Aargauer Grossen Rat Noa Haefeli (18) und Alice Bissegger (82). Sie stammt aus der Ostschweiz

Beide wollen in den Aargauer Grossen Rat Noa Haefeli (18) und Alice Bissegger (82). Sie stammt aus der Ostschweiz

Noa Haefeli ist mit gerade 18 Jahren der jüngste Grossratskandidat, die älteste Kandidatin Alice Bissegger will es mit 82 Jahren noch einmal wissen. Sie hat ein Handy, das meistens zu Hause liegt, er war nur via Twitter zu erreichen. Beide kandidieren am Sonntag für den Grossen Rat. Ein Gespräch mit Unterbrüchen.

Als die AZ mit der Idee Alice Bissegger anrief, war sie sofort begeistert. Und weil die Ältere das Vorwahlrecht hat, sollte sie den Treffpunkt bestimmen. Sie lud zu sich ins Freiamt ein, wählte das Restaurant Benedikt in der Pflegi Muri, wo sie ehrenamtlich Bewohner besucht und Klosterführungen leitet. Noch am Telefon bat sie um die Nummer des jungen Herrn, um ihn zu fragen, ob sie ihn am Bahnhof Muri abholen soll. Beim Treffen verstanden sich die zwei schnell. Noa Haefeli erzählte, dass er gerade seine Optikerlehre abgebrochen und er schon vor einem Jahr eine Buchhändlerlehre geschmissen habe. Alice sagt: «Es ist das Vorrecht der Jugend, auszuprobieren.»

Alice, als du jung warst, hattest du für ein Radio gearbeitet?

Alice: Ja, in den 60er-Jahren in der Stadt St. Gallen. Als Ansagerin und Programmgestalterin. Es gab Kabelanschlüsse mit drei Programmen: Beromünster, Sottens und unser Lokales. Am wichtigsten war das Wunschkonzert. Die Leute schickten Postkarten, ich suchte im Lager die Platten heraus.

Noa: So gut! Heutzutage ist das kaum mehr vorstellbar. Ich habe ein Handy und höre Radio sauber übers Internet.

Alice: Ja. Aber ich finde, wir hatten auch eine ganz tolle Zeit. Radio, Fernseher, Autos, dann die Mondlandung… technisch ist alles explodiert!

Noa, du findest wohl auch, dass gerade technisch «alles explodiert»?

Noa: Ja, aber ich glaube, nicht in dem Masse wie damals. Ich kann mich grad noch an einen alten Kasten-Computer zu Hause erinnern. Und von da an gings dann recht zackig.

Alice zeigt zum Eingang, ruft: «Lueg, das ist der Bruno!» Sie winkt in Richtung eines Besuchers. «Guete Morge!»

Im Leben hatte man kein Wunschkonzert. Die Gesellschaft hatte eine klare Vorstellung davon, was eine Frau zu tun hatte?

Alice: Eindeutig. Die Frau heiratet und ist da für Haus und Hof. Da fiel ich halt ein wenig zum Rahmen heraus.

Das hat dir nicht gepasst?

Noa: Ja hoffentlich nicht!

Alice: Du, du darfst nicht vergessen: Das war eine völlig andere Zeit.

Irgendwann kam der Punkt, an dem du in die Politik wolltest?

Alice: Ja, es ging mir um die Spitex. Das war damals völlig neu und ich wollte mich dafür einsetzen. Aber eben: Das waren völlig andere Zeiten, darüber müssen wir heute nicht mehr reden, das ist kalter Kaffee.

Noa: Ich glaube, früher hatte man in der Jugend mehr Freiheiten. Es war wilder. Wenn ich meiner Mutter zuhöre, wie sie erzählt, denke ich: Heute sind alle an ihrem Handy, man geht kaum mehr hinaus. Früher konnte man sich mehr leisten. Ist das so?

Alice: Das kann ich zu wenig beurteilen. Deshalb bin ich ja froh, dass die Jungen kandidieren. Die müssen uns zeigen, wie sie leben. Meine Töchter sind auch schon über 50 und ich habe keine Enkel. Also weiss ich nicht so genau, was die Jungen heute machen.

Was machen die Jungen denn, Noa?

Noa: Es ist träge. Es ist heute offensichtlich wichtig, dass man erfolgreich wird. Karriere steht relativ hoch oben. Daran ist nichts auszusetzen. Aber das macht es halt etwas dumpf. Alle sind am Handy. Es wäre gut, wenn alle mal ihre Handys weglegen würden.

Findest du das auch, Alice?

Alice: Handys hatten wir natürlich keine. Man ging mit dem Hund in den Wald zum Picknick. Man hat gesungen. In der Nacht bei Vollmond ging man auf den Freudenberg, hat ein bisschen gefestet. Dann war ich eineinhalb Jahre als Au-pair in England, und als ich zurückkam, wurde natürlich gearbeitet.

Noa: Und heutzutage versifft man im Internet. Viele Junge, die ich kenne, gamen. Die sitzen am Abend fünf Stunden am PC. Ich muss auch schauen, dass ich nicht immer von der einen Website zur nächsten abschweife. Aber da muss man sich dann halt einfach sagen: So, das waren jetzt zwei Stunden, jetzt mache ich noch etwas anderes.

Du hast mit der Politik ein anderes Hobby gewählt. Warum?

Noa: Dass ich zu den Juso kam, war Zufall. Aber ich sehe die Bedeutung. Ich bin eher arm aufgewachsen, wenn man das in der Schweiz so sagen darf.

Alice: Du auch?

Noa: Ja. Da merkst du schnell: Hey, da ist etwas, das nicht so läuft, wie es sollte. In die Politik kam ich dann, weil ich auf der Strasse angesprochen wurde wegen einer Initiative. Die Juso-Vertreterin lud mich an die nächste Versammlung ein. Das war vor einem Jahr, seither bin ich zu 110 Prozent dabei.

Der vorhin begrüsste Bruno kommt an den Tisch, hält mit Alice einen Schwatz. Dann legt sie ein Mäppli mit Lebensmittelkarten aus dem 2. Weltkrieg auf den Tisch. Sie erklärt Noa, wie die Rationierung funktionierte. Er erzählt, wie er kürzlich ein ehemaliges NS-Konzentrationslager in Österreich besichtigte. Ihm seien die Tränen gekommen. Alice erzählt von einem Besuch in der Tschernobyl-Sperrzone. Sie sind sich einig: Das sind Ereignisse, die man nicht für möglich gehalten hätte, die aber doch passiert sind.

Denkt ihr, so etwas könnte wieder einmal passieren?

Alice: Ja. Denn die Leute lernen relativ schlecht. Was hat ein Krieg geändert in den letzten 100 Jahren? Nichts.

Noa: Ich hoffe nicht, aber es ist zu befürchten.

Ist das Teil deiner Motivation, Noa?

Noa: Ja. Natürlich kann ich keinen Krieg verhindern. Aber es sind die kleinen Dinge, für die man kämpfen muss, damit es gar nicht so weit kommt.

Alice ruft durch das Restaurant: «Tschüss Bruno! Vergiss nicht, wählen zu gehen, gell!»

Noa kandidiert als 18-Jähriger. Das war zu deiner Zeit undenkbar?

Alice: Absolut. Wir waren obrigkeitsgläubig. Was die Alten sagten, war gut, die Jungen hatten nichts zu melden. Ich finde es deshalb super, hat es Junge im Rat. Stürmicheibe. Die bringen Power und Pfiff rein. Aber es braucht auch die Alten, die sagen: Schon gut, was ihr macht, aber vielleicht ein wenig langsamer? Wir können Überblick geben.

Noa: Es ist wichtig, dass wir Ausgeglichenheit haben. Die Jungen sind stürmisch. Machen Druck. Aber es braucht auch die Alten. Es geht ja darum, eine Volksvertretung sicherzustellen. Dafür braucht es alle.

Herr Koller (Name geändert), Bewohner der Pflegi Muri, tritt an den Tisch. «Soo, wirsch usgfröget?», fragt er Alice. Sie kennt ihn von ihren freiwilligen Seniorenbesuchen. Wir erklären, um was es im Gespräch geht. Herr Koller sagt: «Ui, da müssen wir aber schnell wählen gehen! Du musst mir aber noch deinen Namen notieren, gell!»

Ist das Alter ein Handicap, ein Vorteil oder beides?

Alice: Das Alter ist verruckt schön. Man ist nicht mehr berufstätig, darf wählen, was man will. Ich bin zum Beispiel in der Kulturkommission. Unterrichte Tanzen 50plus. Dort geht es um Bewegung und Orientierung. Der Jugend stehen dafür heute mehr Wege offen.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Alice: Etwas, was mir ganz wichtig ist und was auch der Grund ist, warum ich mit 82 nochmals antrete: die Bildung. Ich bin bis heute Legasthenikerin. Mein Lehrer sagte: «Du bisch e tummi Baabe.» Hilfe gab es keine. Heute gibt es gezielte Unterstützung. Also hört auf mit Sparen bei der Bildung!

Noa: Wenn man bei der Bildung spart, nimmt man von denen, die sich nicht wehren können. Als ich in der Schule war, hatten wir 15 Freifächer. Heute sind es noch 2.

Alice: Das geht einfach nicht. Man muss doch den Jungen «auftun», möglichst viele Möglichkeiten geben, um sich selber und seine Stärken zu finden. Früher wusste man nicht, wie das geht. Heute wüsste man es, und macht es nicht. Das ist doch ein Skandal.

Apropos Schüler in der Politik: Stimmrechtsalter 16?

Noa: Es kotzt mich an, wenn ich sehe, wie die Anträge des Jugendparlaments im Grossen Rat belächelt werden. Da sind junge Leute, die viel Zeit reinstecken, und dann wird das durchgewinkt mit der Haltung: Jaja, wir schauen das mal an. Eine Senkung des Stimmrechtsalters auf kantonaler oder kommunaler Ebene fände ich gut. Man müsste aber parallel dazu Staatskundeunterricht machen. Einen praxisorientierten Politikunterricht, in dem man lernt, sich eine Meinung zu bilden. Das könnte man auch online anbieten.

Alice: Da bin ich vielleicht nicht up to date. Ich kann gerade mal E-Mails empfangen und schicken. Aber Du könntest mir helfen mit dem Computer!

Noa: Das kann ich schon. Wenn du mir eine Klosterführung gibst?

Alice: Abgemacht!

Wo versteht ihr euch nicht? AHV?

Alice: Bei der AHVplus-Initiative hab ich Ja gesagt.

Noa: Ich auch.

Verkehrspolitik?

Alice: öV.

Noa: öV und Velo.

Alice: Velo finde ich auch gut. Aber seit ich gestürzt bin, habe ich Angst.

Nachrichtendienstgesetz?

Alice: Ui, da sind wir sicher verschiedener Meinung.

Noa: Meinst du? Also beim NDG hab ich mich stark dagegen gestemmt.

Alice: Ich finde, ich habe nichts zu verbergen. Und du hast hoffentlich auch nichts zu verbergen.

Noa: Ich finde eben, wir alle haben etwas zu verbergen, ist es auch noch so klein. Du bist nicht in dem Alter, in dem das Handy alles über dich weiss. Wenn der Nachrichtendienst das abgreifen kann, ohne dass wir es wissen, gefällt mir das nicht.

Alice: Wenn das Gesetz nur einen Anschlag verhindert, hat es sich gelohnt.

Noa: Anschläge sind schrecklich. Aber es ist ein gefährlicher Grat zwischen Sicherheit und Privatsphäre. Die suchen doch die Nadel im Heuhaufen und schreien jetzt nach noch mehr Heu.

Alice, hast du auch ein Handy?

Alice: Nur für die Klosterführungen und fürs Tanzen. Für den Notfall. Sonst gilt in unserer Familie: No news is good news! Aber Noa, wir müssen unbedingt diese Klosterführung machen, damit du mir dieses Facebook erklären kannst. Das kenne ich nicht.

Noa: Nicht? Das ist super zum Politisieren! Da kann man sich Freunde holen und man ist top dabei. Ich habe 1600 Facebook-Freunde und bin heillos überfordert. (Er lacht laut.)

Noa, was denkst du, wie sorgen wir für unsere Senioren?

Noa: Schwierige Frage, grad so nebenan! Es gibt sicher Verbesserungspotenzial. Altersarmut etwa. Und es ist wichtig, dass niemand vereinsamt.

Alice, was denkst du, wie sorgen wir für unsere Jugend?

Alice: Schlechter als früher. Bildungssparen ist das Dümmste. Abgesehen davon haben sie mehr Möglichkeiten. Und die gönne ich ihnen von Herzen.

Wie seht ihr eure Wahlchancen?

Alice: Ich bin nicht in erster Linie angetreten, um gewählt zu werden. Sondern, damit man sieht: Auch die Alten haben einen Platz in der Gesellschaft.

Noa: Ich bin auch nicht angetreten, um gewählt zu werden. Mir geht es darum, Erfahrungen zu sammeln und mich für die SP-Liste einzusetzen.

Was möchtet ihr eurem Gegenüber auf den Weg geben, falls es doch gewählt würde?

Noa: Luegsch au für die Junge!

Alice: (Lacht.) Das einewäg! Und ich wünsche dir, dass du wirklich den Weg findest, der für dich stimmt.

Noa Haefeli, 18, Juso

Der Niederrohrdorfer ist seit einem Jahr Mitglied der Juso Baden-Brugg. Er wurde am 17. September volljährig. Am 25. September durfte er zum ersten Mal abstimmen. «Ich hüpfte freudig in der Wohnung herum, als ich sah, dass mein Abstimmungsmaterial gekommen war», erzählt er. Er begann zweimal eine Lehre, brach zweimal wieder ab. Nächstes Ziel ist ein Zwischenjahr im Landwirtschaftsdienst. Er hört Ska-Punk, Rap und Reggae. (rio)

Alice Bissegger, 82, SP

Die Benzenschwilerin (Gemeinde Merenschwand) wuchs im Kanton St. Gallen auf. Sie steht zwar als «Neue» auf der Liste, sass aber bereits von 1977 bis 1988 für die SP im Grossen Rat. Ihre Wahl war eine Sensation: Sie war eine Frau, eine Reformierte im katholischen Freiamt und eine Fremde (erst kurz davor zugezogen aus Affoltern am Albis). Als Sozialarbeiterin wirkte sie 25 Jahre für Krebsliga/Lungenliga. Sie hört klassische und Volksmusik, «aber keine Schnulzen!» (rio)

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